Bundestagsrede zum Abschlussbericht des Breitscheidplatz-Untersuchungsausschusses

Rede Untersuchungsausschuss Mahmut Özdemir

Am 24. Juni 2021 haben wir im Deutschen Bundestag den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zum Terrorattentat auf dem Berliner Breitscheidplatz beraten. Auf der Tribüne des Bundestages waren viele Geschädigte und Hinterbliebene zu Gast, mit denen wir uns im Anschluss persönlich ausgetauscht haben.

Über drei Jahren haben wir jeden Donnerstag in einer Sitzungswoche in diesem Untersuchungsausschuss versucht, durch Aufklärung zur Linderung beizutragen: Aufklärung dessen, was passierte, als ein sittlich verkommener 24-jähriger Terrorist geliebte Menschen in den Tod riss und Menschen verletzte. Linderung beginnt auch da, wo man Dinge offen und ehrlich aus- und anspricht: es wurde viele Fehler gemacht und man hätte diese Tat verhindern können. Als Konsequenz aus dem Anschlag fordere ich, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu einer Identitätsfeststellungsbehörde weiterentwickelt wird. Wenn Herkunft und Identität nicht festgestellt werden können, darf auch keine Einreise möglich sein.

Der Täter muss mit der Tat nicht mehr leben, er hat es hinter sich – wir schon: Angehörige, Verletzte, Staatsdienerinnen und Staatsdiener mit dem Makel, Bürgerinnen und Bürger sowie Gäste der Bundesrepublik Deutschland nicht geschützt zu haben und nicht schützen zu können. Vergeben Sie uns als Staatsdienerinnen und Staatsdiener, damit wir uns selber vergeben können, um dem Versprechen zu dienen, dass sich so ein Anschlag nie wieder in vergleichbarer Weise ereignet, nicht in Deutschland, nicht in Europa und durch gute Zusammenarbeit auch nicht woanders in der Welt.

Ich danke in aller Demut für Ihre Aufmerksamkeit, den Opfern und Hinterbliebenen für ihre Anwesenheit. Es war mir eine persönliche Ehre, gemeinsam mit allen Abgeordneten des Untersuchungsausschusses an der Aufklärung zu arbeiten. Wir haben geeifert, wir haben gestritten. Wir haben aber immer – bis auf eine Ausnahme – das gleiche Ziel verfolgt, allerdings mit verschiedenen Prioritätensetzungen. Darauf bin ich stolz. Es ist mir eine Ehre. Ich hoffe, dass wir Ihrem Anspruch, Ihrer Würde im Umgang mit dieser Bürde gerecht geworden sind.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


Der 1. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages hat zudem am  21.06.2021 seinen Abschlussbericht an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble übergeben. Der Bericht zeigt Versäumnisse im Bereich der Sicherheitsbehörden des Bundes sowie der föderalen Sicherheitsarchitektur auf und würdigt die Ermittlungen nach dem Anschlag.

Anis Amri war kein Einzeltäter, sondern Teil eines Netzwerkes. Wahrscheinlich erfolgte seine Radikalisierung während seiner Haft in Italien und er kam bereits mit der Absicht nach Deutschland, die Ziele des sogenannten Islamischen Staates (IS) zu befördern. Dabei schwankte er zwischen der Ausreise zum IS und einem Anschlag in Deutschland. Noch während der Tat war Amri mit seinem Mentor Moadh Tounsi („@Moumou1“) vom IS in Libyen über einen Telegram-Chat in Kontakt. Wie Bundeskriminalamt und der Generalbundesanwalt sieht die SPD-Fraktion ihn als Mittäter an.

Viele Sicherheitsbehörden hätten Amri wahrscheinlich im Vorfeld stoppen können und haben ihre Chance dazu jeweils verpasst. Aus Sicht der SPD-Fraktion stehen drei Problembereiche bei der Bearbeitung des Falles im Vorfeld des Anschlages im Vordergrund:

  1. Die Überlastung der mit islamistischen Gefährdern befassten Sicherheitsbehörden infolge der enormen Zuwanderung aus Syrien, Afghanistan und Irak in den Jahren 2015/2016.
  2. Die mangelhafte Kooperation der Behörden in der zentralen Schnittstelle der föderalen Sicherheitsarchitektur: dem Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ). Im Idealfall fließen hier die Informationen von Polizei und Nachrichtendiensten sowie von Behörden des Bundes und der Länder zusammen und es erfolgt eine strategische Abstimmung des Vorgehens.
  3. Die Fehleinschätzung der von Amri ausgehenden Gefahr und das passive Verhalten der Bundesbehörden BKA, BND und vor allem des Verfassungsschutzes, das zu überprüfen versäumte, ob es den Fall übernehmen sollte, nach dem die Polizeibehörden mit ihrem Latein am Ende waren.

Das BfV und der damalige Präsident des Verfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen, verdient, abgesehen von einer tüchtigen Sachbearbeiterin, eine besonders kritische Würdigung. Maaßen nannte Amri nach dem Anschlag einen „reinen Polizeifall“ – eine unsachgemäße Zuspitzung, die die Verantwortung der Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern negiert. Denn das BfV stellte zur Verschleierung der Quelle des LKA NRW bereits am 26. Januar 2016 ein sogenanntes „Behördenzeugnis“ über Amri aus. Zum Zeitpunkt des Behördenzeugnisses hatte das BfV keine eigenen Erkenntnisse über den späteren Attentäter. Dies wäre jedoch der Zeitpunkt gewesen, mögliche Ansatzpunkte für eine eigene Erkenntnisgewinnung – z.B. über das „Heranspielen“ einer Quelle – über ihn zu gewinnen. Das Versäumnis ist repräsentativ für die insgesamt viel zu passive Rolle des Verfassungsschutzes.

Während der Ausschuss im Vorfeld erhebliche Defizite bei der Fallbearbeitung festgestellt hat, fällt die Bewertung des Handelns der Behörden nach dem Anschlag wesentlich positiver aus. Die größten Mängel in dieser Phase stellte der Ausschuss leider bei der Betreuung von Opfern und Angehörigen fest. In der Zwischenzeit wurde die Betreuung durch feste Ansprechpartner, die Opferbeauftragten des Bundes, der Länder sowie der Justiz erheblich verbessert. Auch die Kooperation im GTAZ und bei der Abschiebung von Gefährdern wurde gestärkt.

Weit über drei Jahre hat sich der Untersuchungssauschuss mit der Aufklärung des islamistischen Terroranschlages auseinandergesetzt. Der Bundestag hat mit einer großen Anstrengung alles in seiner Macht Stehende getan, um der Verantwortung gegenüber den Verletzten und den Angehörigen von Opfern des Anschlags gerecht zu werden und den Schutz der Bevölkerung zu verbessern.